Direkt zum Hauptbereich

Von der Französischen Revolution bis zu den Schulmädchen im Iran: Die innerste Sehnsucht der Menschen ist die Sehnsucht nach Freiheit...

 

Seit Mitte September 2022 demonstrieren im Iran Tausende Menschen gegen das Regime. Auslöser der Proteste war der Tod der 22jährigen Mahsa Amini. Sie war von der Sittenpolizei festgenommen worden, weil sie gegen die islamischen Kleidungsgesetze verstossen und ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen haben soll. Sie starb am 16. September in Polizeigewahrsam. An den Protesten beteiligen sich seither auch Schulmädchen, legen demonstrativ das obligatorische Kopftuch ab und singen das Lied "Baraye", das zur Hymne der Protestbewegung geworden ist, mit dem Refrain "Frauen, Leben, Freiheit". Dutzende von Videos sind seit dem Beginn der Protestbewegung ins Internet gestellt worden, in denen Schülerinnen zeigen, wie sie in ihren Schulen auf den Strassen protestieren, winken und ihre Kopfbedeckungen verbrennen. Gemäss Angaben von Human Rights Watch sind bisher über 50 Kinder und Jugendliche während der Proteste ums Leben gekommen, bis zu tausend Minderjährige befinden sich in Haft.

Es gibt wohl keine stärkere Kraft als die Sehnsucht nach Freiheit. Blättern wir in der Geschichte zurück, so kommen wir nicht am Jahr 1789 vorbei, als die Französische Revolution unter dem Leitspruch "Liberté, Egalité, Fraternité" - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - die verhasste Herrschaft der absolutistischen Könige hinwegfegte und mit ihr jahrhundertelange Knechtschaft, Ausbeutung, Fremdbestimmung und ein Regierungssystem, in dem nur die oberen Zehntausend etwas zu sagen hatten und der Rest der Bevölkerung zur Unmündigkeit verdammt war.

Freiheit war auch das Leitmotiv der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung Mahatma Gandhis, welche 1947 zur Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft führte. Immer und immer wieder folgten sich im Laufe der Jahrzehnte weltweit politische Bewegungen und Freiheitskämpfe zur Überwindung von Unterdrückung, sozialer Benachteiligung, Ausbeutung und Bevormundung durch autokratische Staatsführer oder privilegierte, korrupte Oberschichten: die Oktoberrevolution in Russland, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Martin Luther King, Nelson Mandelas Kampf gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika, die Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR, der weltweite Kampf der Frauen für politische Gleichberechtigung, der arabische Frühling in mehrere nordafrikanischen Ländern, die Befreiungsbewegung der mexikanischen Zapatisten, der Kampf der Palästinenser für Autonomie und staatliche Unabhängigkeit, die Metoo-Bewegung gegen sexuelle Belästigung, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen, die "Black-Lives-Matter"-Bewegung, die sich gegen Gewalt gegenüber Schwarzen bzw. People of Color einsetzt. Auch die aktuellen Klimastreiks lassen sich in diese Tradition von "Befreiungsbewegungen" einreihen, geht es dabei doch um eine Überwindung und Befreiung aus einer vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und seiner Wachstumsideologie ausgeübten Fremdbestimmung, um den Weg freizumachen in eine Zukunft, in der Mensch und Natur im Einklang stehen und auch zukünftige Generationen auf diesem Planeten ein gutes Leben haben können. 

Die Liste der politischen Bewegungen für Freiheit und Selbstbestimmung liesse sich noch lange weiterführen, die genannten Beispiele bilden bloss eine kleine Auswahl. Doch kann sie verdeutlichen, wie sehr die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung im Laufe der Geschichte eine treibende Kraft gewesen ist und gewiss auch weiterhin bleiben wird. Nicht alle diese Bestrebungen haben freilich zum Erfolg geführt, immer wieder gab es auch Rückschläge, dann aber auch wieder neue Hoffnung und neue Chancen, so wie 1994, als Nelson Mandela, langjähriger Vorkämpfer für eine Gleichberechtigung der Schwarzen in Südafrika, nach 30jähriger Haft zum Staatspräsidenten seines Landes gewählt wurde.

"Der Mensch ist für eine freie Existenz gemacht", sagte der deutsche Dichter Matthias Claudius um 1800, "und sein innerstes Wesen sehnt sich nach dem Vollkommenen, Ewigen und Unendlichen, als seinem Ursprung und Ziel." Und der Dalai Lama formulierte es so: "Der Körper kann eingesperrt und versklavt werden, nie jedoch der menschliche Hunger nach Freiheit." Ja, das innerste Wesen des Menschen ist seine Sehnsucht nach Freiheit. Seine innerste Stimme ist die Stimme nach Selbstverwirklichung. Das können wir nicht nur von den iranischen Schulmädchen lernen, die zurzeit ihr Leben für die Freiheit aufs Spiel setzen. Das können wir auch von unseren eigenen Kindern lernen. Nichts hassen sie so sehr, als wenn man sie dazu zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht lieben. Ihre ganze Widerspenstigkeit gegen Fremdbestimmung und Bevormundung ist nichts anderes als zutiefst ihre Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Denken wir nur an ihre Partys, wenn sie erst einmal 17 oder 18 Jahre alt geworden sind, an ihr ausgelassenes Tanzen, Lachen und Spass haben. In solchen Momenten wünschte man sich, sie würden möglichst nie so richtig "vernünftige" Erwachsene werden. Und man fühlt sich unweigerlich an diesen berühmt gewordenen Satz des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll erinnert: "Das Einzige, wovor Jugendliche geschützt werden müssen, sind die Erwachsenen."

Ja, diese innerste Stimme der Menschen ist die Stimme nach Freiheit und Selbstbestimmung. Doch nur, wenn auch die beiden anderen Leitideen der Französischen Revolution, die "Egalité" und die "Fraternité", gleichermassen verwirklicht werden, ist echter gesellschaftlicher Fortschritt möglich. "Liberté" alleine genügt noch nicht. Eine Gesellschaftsform, die alles nur auf "Liberté" setzt und dabei die "Egalité" und die "Fraternité" vernachlässigt, ist ebenso längerfristig zum Scheitern verurteilt wie eine Gesellschaftsform, die alles dem Diktat von "Egalité" und "Fraternité" unterstellt, dabei aber die "Liberté" ausser Acht lässt.

Die Geschichte der Menschen ist eine nicht enden wollende Geschichte der Sehnsucht nach Freiheit, eine Geschichte der Emanzipation. Das Stärkste, Positivste, Hoffnungsvollste, das wir in all den dunklen Zeiten von Krieg, Ausbeutung, Menschenverachtung, sozialer Ungerechtigkeit und Zukunftsängsten nicht vergessen dürfen. Der liebe Gott oder wer immer die Natur und den Menschen erschaffen hat, schickt uns jeden Tag Millionen von Kindern auf die Erde, gibt nicht auf und hofft immer noch, dass wir seine Botschaft endlich verstehen: Werdet wie die Kinder, so voller Leben, so voller Phantasie, so voller Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, dann braucht ihr euch nicht mehr zu hassen, gegenseitig zu unterdrücken, Kriege zu führen, die Natur und unsere eigene Zukunft zu zerstören. "Man muss den Zorn in sich aufnehmen", sagte Mahatma Gandhi, "und so wie gestaute Wärme in Energie umgesetzt werden kann, so kann unser gestauter Zorn in eine Kraft umgesetzt werden, die die Welt zu bewegen vermag." 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

US-Imperialismus: "Wenn es jemand anderes tun würde, dann würde man es Terrorismus nennen. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel."

  "Es gab keinen vernünftigen Grund für den Krieg gegen Afghanistan", sagte der US-Publizist Noam Chomsky am 20. Oktober 2021, "Osama Bin Laden war erst ein Verdächtiger, als die Vereinigten Staaten begannen, Afghanistan zu bombardieren. Wenn es einen Verdächtigen gibt, den man festnehmen will, führt man normalerweise eine kleine Polizeiaktion durch. Aber nein: Zuerst bombt man, dann prüft man, ob es einen Grund dafür gegeben hat. Wenn das jemand anderes tut, nennt man es Terrorismus. Wenn wir Amerikaner es tun, dann ist es ein Spass und ein Spiel." Was Chomsky über den Afghanistankrieg sagte, gilt gleichermassen für den Vietnamkrieg 1964-1975, für die verdeckten Militäroperationen in Zentralamerika unter Präsident Reagan, für den Jugoslawienkrieg 1999, für den Irakkrieg 2003 und alle anderen rund 40 Kriege und Militärschläge, welche die USA seit 1945 geführt haben und die rund 50 Millionen Tote und rund 500 Millionen Verwundete gefordert haben. Es gab keinen Grund,

Gegenseitige Drohgebärden und Säbelrasseln rund um die Ukraine: Höchste Zeit, dem Krieg weltweit ein Ende zu setzen

  Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine. Appelle des amerikanischen Präsidenten Joe Biden an Wladimir Putin, ein russischer Einmarsch in die Ukraine hätte unabsehbare Vergeltung zur Folge. Putins Warnung an den Westen, nicht weitere Staaten wie etwa Moldawien, Georgien oder eben die Ukraine in die NATO einzugliedern. Drohgebärden und Säbelrasseln auf beiden Seiten und im schlimmsten Falle ein Krieg ungeahnten Ausmasses. Verrückt. Während hochkomplexe Gehirnoperationen mittels ferngesteuerter Sonden durchgeführt werden, Kommunikationsnetze ganze Kontinente miteinander verknüpfen und immer ausgeklügeltere Flugkörper in immer grössere Weiten des Weltalls vordringen, haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich von gewaltfreier Konfliktlösung, Friedensförderung durch Dialog und dem gezielten Abbau gegenseitiger, meist auf wechselseitiger Projektion beruhenden Feindbilder offensichtlich noch nicht den Weg in die Köpfe der politisch verantwortlichen Machtträger gefunden. Nichts

Die verheerende Zerstörung des Kachowka-Staudamms: Einseitige Schuldzuweisungen an die Adresse Russlands, obwohl noch keinerlei Beweise vorliegen...

  Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson am 5. Juni 2023 müssen Zehntausende Menschen in der Südostukraine evakuiert werden. "Moskau und Kiew", so der "Tagesanzeiger" am 7. Juni , "bezichtigen sich gegenseitig, den Damm zerstört zu haben. Unabhängige Augenzeugenberichte aus der Region gibt es keine. Internationale Analysten schliessen anhand von Satellitenbildern der letzten Wochen und Monate jedoch nicht aus, dass der Damm wegen der massiven Beschädigungen im Kriegsverlauf schliesslich von selber gebrochen sein könnte." Militärisch nütze der Dammbruch keiner Seite etwas, so der "Tagesanzeiger", auch Russland profitiere nicht davon. Eine breite ukrainische Attacke in dieser Region hätte Russland sowieso nicht zu befürchten gehabt. Experten würden zudem betonen, dass die Wassermassen auf der von Russland okkupierten Seite des Dnjepr weit mehr Schaden anrichten würden als auf dem rechten Flussufer, welches die Ukraine kont